Alltag im Ukraine-Krieg: Lotterie um Leben und Tod

In der Ukraine leben über drei Millionen Menschen in Frontgebieten. Ihr Alltag ist geprägt von der Furcht vor Angriffen, während sie auf der Suche nach Wasser, Nahrung und Hilfsgütern sind. Nach zwei Jahren Krieg sind sie erschöpft.

„Mein Leben ist eine Lotterie“, sagt Vasyl, 66. Jedes Mal, wenn er sein Haus in der südlichen Stadt Cherson verlässt, weiß er nicht, ob er lebend zurückkommt und ob sein Haus noch so ist, wie er es verlassen hat. „Wir gehen nur für kurze Strecken raus und nur, wenn es absolut notwendig ist.“ Notwendig bedeutet für ihn, dass er Nahrung, Wasser oder Hilfsgüter braucht. „Nirgendwo ist man sicher. Nirgendwo kannst du dich verstecken, der Krieg wird dich immer finden.“

Sviatlana bei einer Verteilung von Hilfsgütern in Kherson Sviatlana bei einer Verteilung von Hilfsgütern in Kherson

Sviatlana bei einer Verteilung von Hilfsgütern durch einen CARE-Partner in Cherson. Foto: CARE/Sarah Easter

Wann immer Sviatlana (47) ihr Haus verlassen muss, rennt sie. „Wir leben in unserem Keller, um sicher zu sein. Aber manchmal muss ich etwas zu essen besorgen oder meiner Mutter helfen, die 85 Jahre alt und in ihrer Mobilität eingeschränkt ist. Ich renne so schnell ich kann, damit ich nicht lange draußen und nicht so ein leichtes Ziel bin“, sagt Sviatlana. Während sie rennt, lauscht sie auf die Explosionen. „Wenn ich laufe, versuche ich immer, mich mit einer Mauer zu schützen, damit ich lebend zu meiner Tochter zurückkehren kann“, sagt sie. So nahe an einem Gebiet mit aktiven Kämpfen zu leben, ist sehr gefährlich und unsicher. „Jeder Tag könnte unser letzter sein. Wir leben nicht, wir überleben nur. Wenn wir nicht fliehen, sitzen wir im Keller und warten darauf, dass die Explosionen aufhören, damit wir wieder loslaufen können“, sagt sie und nimmt ihren Schlafsack, den sie bei einer Verteilung von einem CARE-Partner für ihren Keller erhalten hat. Sie möchte ihn sicher nach Hause bringen – also rennt sie los.

Iryna bei einer Verteilung von Hilfsgütern in Kherson. Iryna bei einer Verteilung von Hilfsgütern in Kherson.

Iryna bekommt Schlafsäcke für ihre Familie: „Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, weil wir sonst nicht überleben würden.“ Foto: CARE/Sarah Easter

In Irynas (58) Wohnung hat es gerade mal sechs Grad. „Wir haben seit zwei Wochen keine Heizung mehr, weil es in diesem Teil der Stadt weder Gas noch Strom gibt“, berichtet Iryna. Ihr geht es wie vielen Bewohner:innen von Cherson. Die Winter in der Region sind hart und die Temperaturen können noch weiter fallen. „Wenn es keine Explosionen gibt, laufe ich in unserem Garten auf und ab, um mich warm zu halten“, erzählt Iryna. Die Schlafsäcke, die sie an diesem Tag bei einer Verteilung durch einen CARE-Partner erhalten hat, helfen ihr und ihrer Familie, sich warm zu halten.

Vor ein paar Monaten wurde ihr Wohnhaus direkt von einer Rakete getroffen. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hörte die Explosion und sah dann das Feuer, hörte die Schreie und das Weinen meiner Nachbarn. Wir hatten großes Glück, dass wir überlebt haben“, sagt sie und entschuldigt sich, weil ihr Telefon klingelt: ihr Mann. Er macht sich Sorgen, dass sie schon zu lange weg ist, und fragt, ob sie verletzt ist und Hilfe braucht.

Olga mit Eimern in in Sviatohirsk, Region Donezk Olga mit Eimern in in Sviatohirsk, Region Donezk

Olga hilft als Freiwillige in einer von einem CARE-Partner eingerichteten Wäscherei. Foto: CARE/Sarah Easter

In der Ukraine werden täglich Häuser oder die zivile Infrastruktur getroffen. Wenn Dächer beschädigt sind, dringen Wasser und Schnee in die Gebäude ein und verschlimmern die harten Bedingungen zusätzlich. Fenster werden zertrümmert. Strom, Heizung und Wasserversorgung sind unterbrochen. „Jeden Morgen stehe ich um 8 Uhr auf, um mit Eimern 150 Liter Wasser zu meinem Haus zu tragen, denn das braucht meine Familie täglich zum Kochen, Putzen, Duschen oder Trinken“, erklärt Olga (55) aus Sviatohirsk. Mit Unterstützung von CARE hat eine Partnerorganisation an mehreren Stellen in der Stadt Wassertanks aufgestellt, um eine ausreichende Wasserversorgung für diejenigen zu gewährleisten, die nicht fliehen konnten und vor Ort bleiben.

Ukraine: Nadia und Vicheslav mit ihrer Tochter Myroslava Ukraine: Nadia und Vicheslav mit ihrer Tochter Myroslava

Nadia und Vicheslav mit der kleinen Myroslava in der Entbindungsstation in Odessa. Ihre Tochter ist das erste Neujahrsbaby in Odessa. Foto: CARE/Sarah Easter

Nadia (31) und ihrem Mann Vicheslav (37) gelang es, aus ihrem Haus in Cherson nach Odessa zu fliehen. „Wir konnten zu Hause nicht mehr überleben“, sagt Nadia. Jetzt begrüßen sie das jüngste Mitglied ihrer Familie: Tochter Myroslava. Sie ist das erste Neujahrsbaby in Odessa. „Odessa wurde zu dieser Zeit stark bombardiert und wir hatten große Angst, als die Wehen einsetzten. Aber das Krankenhauspersonal hat sich sehr gut um uns gekümmert. Wir sind sofort in den Schutzraum gegangen“, sagt Nadia. Sie lag auf einem Bett im dunklen Korridor des Bunkers, während ihr Mann ihre Hand hielt.

Im Jahr 2023 haben fast 2.000 Mütter in dieser Entbindungsstation entbunden. CARE unterstützt das Krankenhaus mit einem Partner, der wichtige Materialien und Schulungen für das Personal bereitstellt. Myroslava wurde gesund und ohne Komplikationen geboren. „Wir haben Glück. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie andere schwangere Frauen, die noch in Cherson sind, es machen. Es gibt keine Infrastruktur mehr und keine medizinischen Einrichtungen“, sagt Nadia. „Die Stadt hat ihre Seele verloren. Früher gab es in Cherson so viele Kinder, die auf der Straße spielten, aber jetzt wachsen sie in Kellern auf“, sagt Vicheslav.

Olena in einem Frauenzentrum einer CARE-Partnerorganisation in Saporischschja, Ukraine. Olena in einem Frauenzentrum einer CARE-Partnerorganisation in Saporischschja, Ukraine.

Olena floh mit ihrer Tochter und ihrem Mann. Die Großeltern blieben zurück: „Damals dachten wir nicht, dass wir uns die nächsten zwei Jahre nicht sehen würden.“ Foto: CARE/Sarah Easter

Diejenigen, die fliehen, können oft nicht alle mitnehmen. „Wir hatten zehn Minuten Zeit, um unsere Koffer zu packen. Zuerst konnte ich nicht glauben, dass dies im 21. Jahrhundert geschieht. Die Stadt stand still, keine Geschäfte waren geöffnet, niemand bewegte sich und es war so ruhig. Wir haben nicht auf das Schlimmste gewartet und sind sofort nach Saporischschja geflohen“, erzählt Olena (48). Ihr Zuhause ist 100 Kilometer entfernt. Olena, ihre siebenjährige Tochter und ihr Mann flohen. Ihre Eltern und Schwiegereltern blieben zurück. Da ihre Heimatstadt in einem Gebiet liegt, in dem heftig gekämpft wird, haben ihre Eltern manchmal monatelang keinen Telefonanschluss. „Ich habe das immer im Hinterkopf und zähle jeden Tag, an dem ich nicht mit ihnen gesprochen habe. Das letzte Mal war vor einer Woche“, sagt sie.

Vor einigen Monaten, nachdem die Verbindung wieder wochenlang unterbrochen und wiederhergestellt wurde, erfuhr sie, dass ihr Schwiegervater gestorben war. „Er war verletzt und befand sich in einem schlechten Zustand. Es gab keine medizinische Hilfe oder ein Krankenhaus, das ihm helfen konnte, und so erlag er seinen Verletzungen.“ Olena und ihre Tochter besuchen regelmäßig einen Frauenraum eines CARE-Partners in Saporischschja. Sie kommen zu psychosozialen Sitzungen und Beratungen, die ihnen helfen, mit der Angst und der Apathie fertig zu werden. „Wir lernen jeden Tag, uns an unsere neue Realität anzupassen. In diesem Raum sind wir wie eine Familie.“

Vlodymyr und seine Frau bei einer Verteilung von Hilfsgütern in Kherson. Vlodymyr und seine Frau bei einer Verteilung von Hilfsgütern in Kherson.

In Cherson ist humanitäre Hilfe für die verbliebenen Bewohner:innen wie Vlodymyr und seine Frau überlebensnotwendig. Foto: CARE/Sarah Easter

Das ist die Realität des Krieges der letzten zwei Jahre. Und nach dieser langen Zeit fordert er seinen Tribut. „Wir sind erschöpft, ich kann die Angst nicht mehr spüren, weil ich einfach jeden Tag müde bin“, sagt Vlodymyr (67). Die Situation lastet schwer auf den Menschen. Jeden Tag mehr, weil es keine Hoffnung gibt, dass es morgen besser wird. Und doch haben diejenigen, die noch da sind, Wege gefunden, um in dieser täglichen Lotterie um Leben und Tod zu bestehen.

So hilft CARE: CARE arbeitet in der Ukraine mit 21 Partnerorganisationen zusammen und unterstützt die betroffenen Menschen mit der Verteilung von Hygienesets, Küchengeräten und anderen lebensnotwendigen Dingen wie Taschenlampen, Powerbanks, Gaskochern und Schlafsäcken. In Gebieten, in denen die Wasserversorgung beeinträchtigt ist, stellt CARE gemeinsam mit Partnern Wassertanks und Wäschereien bereit. Es werden außerdem beschädigte Dächer und Fenster wiederhergestellt sowie Gemeinschaftszentren und Frauenräume eingerichtet, die psychosoziale und rechtliche Informationen anbieten und medizinisches Personal schulen.

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