„Es gibt
hier keinen
sicheren Ort“

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Fünf Fragen an Step Haiselden, humanitärer Helfer und Experte für Notunterkünfte bei CARE

Step Haiselden ist Bauingenieur. Er war bereits auf fünf Kontinenten im Hilfseinsatz. Derzeit unterstützt er das Team von CARE Gaza.

Wie sieht die Unterkunftssituation der Menschen in Gaza derzeit aus? Wie leben die Menschen?

Für die Menschen im Gazastreifen geht es im Moment ums Überleben, und das ist eine große Herausforderung. Seit vier Monaten sind die Menschen auf der Flucht vor den ständigen Bombenangriffen. Viele der Palästinenser:innen, mit denen wir gesprochen haben, mussten bereits drei- oder viermal umziehen. Sie wissen oft nicht, wohin sie gehen sollen, da es im Gazastreifen praktisch keinen sicheren Ort mehr gibt. Die meisten Geflüchteten – rund 1,7 Millionen Menschen – leben in Unterkünften wie Schulen, Gemeindehäusern oder Krankenhäusern. Einige leben bei Verwandten oder Gastfamilien. Aber leider haben viele andere keine Wahl, als sich auf der Straße aus Planen und Materialien, die sie gefunden haben, notdürftige Unterkünfte zu bauen. Die Notunterkünfte sind zumeist bereits vier- oder fünfmal überbelegt. Es gibt einfach keinen Platz, um noch mehr Menschen aufzunehmen.

Viele Familien flohen mit nichts als den Kleidern, die sie im Oktober 2023 zu Beginn des aktuellen Konflikts trugen. Die meisten haben keine warme Kleidung, die sie vor der Kälte in der Nacht schützt. Die Temperatur sinkt auf fünf Grad Celsius. Den Menschen fehlt es an allem, was wir als überlebenswichtig bezeichnen würden. Sie haben keinen warmen Platz zum Schlafen, keine Toiletten, kein sauberes Wasser, keine Nahrung und keine medizinische Versorgung. Menschen, die bis heute die Bombenangriffe überlebt haben, haben Angst, dass ihre Kinder an Krankheiten sterben oder verhungern werden.

Wie sieht es mit der Situation von Frauen und Mädchen aus?

In Katastrophen sind Frauen und Mädchen oft noch stärker betroffen als alle anderen. Gaza ist da keine Ausnahme. Mehr als 70 Prozent der über 27.000 Menschen, die seit Oktober getötet wurden, waren Frauen und Kinder.

Im Durchschnitt wurden in Gaza jede Stunde zwei Mütter getötet. Mehr als 3.000 Frauen sind zu Witwen geworden, die nach dem Tod ihrer Ehemänner um den Lebensunterhalt für ihre Kinder kämpfen müssen. Die Mehrheit der Flüchtlinge innerhalb von Gaza sind Frauen und Kinder. Alle Unterkünfte sind überfüllt. Dutzende von Menschen teilen sich kleine Zimmer oder Zelte, die nie als langfristige Unterkunft gedacht waren.

Die Frauen, mit denen wir sprechen, berichten, dass es keine Privatsphäre gibt. Oft müssen sie neben Menschen schlafen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. In einigen Unterkünften teilen sich etwa 500 Menschen eine Toilette, und es gibt keine Hygieneartikel. Besonders hart ist dies für Frauen, die menstruieren, schwanger sind oder gerade entbunden haben. Schon vor der jüngsten Eskalation waren Unterernährung und Anämie bei Schwangeren weit verbreitet. Wir sind äußerst besorgt, wie sich das Fehlen von geeigneten Unterkünften und der Mangel an Trinkwasser und Nahrungsmitteln auf Mütter und ihre Kinder auswirken wird. Wir befürchten einen dramatischen Anstieg von Unterernährung und Krankheiten, was langfristig Folgen für die Entwicklung der Kinder haben wird.

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Seit vier Monaten sind viele Familien auf der Flucht. Mehr als die Hälfte der Gebäude wurden zerstört. Foto: Grayscale Media/CARE

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Es gibt viel zu wenig Wasser zum Trinken, Kochen oder Waschen. Foto: Grayscale Media/CARE

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In Rafah stellen sich Familien um CARE-Pakete an. In der Stadt, die zuvor 200.000 Bewohner:innen hatte, drängen sich jetzt 1 Mio. Menschen. Foto: CARE

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Eine Partnerorganisation von CARE liefert dringend benötigte Hygiene-Pakete nach Rafah. Foto: CARE

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Ein Hygienepaket deckt den Bedarf einer fünfköpfigen Familie für einen Monat und enthält ein Badetuch, Seife, Shampoo, Waschpulver, Zahnpasta und Zahnbürsten, Feuchttücher, Damenbinden und Desinfektionsmittel. Foto: CARE

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In überfüllten Notunterkünften müssen sich 500 Menschen eine Toilette teilen. Hygieneprodukte werden dringend gebraucht. Foto: CARE

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CARE-Pakete sind eine wichtige Hilfe. Viele Familien können bei stark gestiegenen Preisen nichts mehr kaufen. Foto: CARE

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Einige Familien leben in Zelten, die nur notdürftig abgedichtet sind. Ihr Zuhause liegt in Trümmern. Foto: Grayscale Media/CARE

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In undichten Zelten schlafen Kinder auf dünnen Matratzen oder auf dem kalten Boden. Es gibt nicht genug Decken. Foto: Grayscale Media/CARE

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Der Inhalt eines CARE-Hygienepakets deckt den Bedarf einer Familie für einen Monat. Foto: CARE

Was fehlt bei den Notunterkünften?

Eigentlich alles. Wir wissen, dass die Sammelunterkünfte stark überbelegt sind. Viele schlafen auf dünnen Matten oder auf dem kalten Boden und haben nur wenige Decken. Die Menschen mussten mehrfach fliehen. Es ist schwer, sich mit sperrigen Matratzen und Bettzeug zu bewegen. Selbst nach vier Monaten gibt es nicht genügend Decken. Die meisten Familien können nichts kaufen, weil sie sich die gestiegenen Preise nicht leisten können. Die Lebensmittel sind so knapp geworden, dass die Welternährungsorganisation (FAO) erklärt hat, dass die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens – 2,2 Millionen Menschen – unmittelbar von einer Hungersnot bedroht ist. Das ist eine unglaublich hohe und noch nie dagewesene Zahl.

Auch hier sind Frauen und Mädchen besonders betroffen. Die meisten Mütter, mit denen wir sprechen, verzichten auf Nahrung, damit ihre Kinder was zu essen haben. Ein weiteres großes Problem sind die winterlichen Regenfälle und Überschwemmungen, die dazu führen, dass täglich Wasser und Abwasser in Zelte eindringen.

In einigen Gebieten haben Kinder laut UNICEF nur Zugang zu etwa 1,5 bis zwei Litern Wasser pro Tag, was unter dem absoluten täglichen Minimum von drei Litern liegt. Selbst in einer Notsituation sollten die Menschen 15 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung haben, um zu trinken, zu kochen, und sich und ihre Unterkünfte waschen zu können. Wassermangel bedeutet auch, dass die Menschen grundlegende persönliche Hygiene nicht aufrecht erhalten können und möglicherweise verschmutztes Wasser trinken müssen. Das wiederum führt zum Ausbruch von Krankheiten wie Durchfall und Krätze. Auch das Auftreten von Cholera bereitet uns große Sorgen. All diese Krankheitsausbrüche passieren in einem Umfeld, in dem nur noch 14 von 26 Krankenhäusern funktionieren. Für die Menschen ist der Zugang zu medizinischer Versorgung schwierig, da sie sich in einem Kriegsgebiet von einem Ort zum anderen bewegen müssen.

Was bedeutet das für die psychische Gesundheit?

Ich denke, die psychische Gesundheit ist eines der am meisten vergessenen Themen. Wir sprechen nicht genug darüber. Ich habe in vielen humanitären Notsituationen gearbeitet – zum Beispiel nach dem Erdbeben in der Türkei im vergangenen Jahr. Ich war nach dem Wirbelsturm „Idai“ 2019 in Mosambik im Einsatz und nach dem Erdbeben auf Haiti 2010. Normalerweise ist nach einer Überschwemmung oder einem Erdbeben – so schrecklich es auch ist – das Ereignis vorbei, und die Menschen können mit den Aufräumarbeiten beginnen und das Erlebte langsam verarbeiten.

Das braucht natürlich oft viele Monate und manchmal Jahre und ist auch unglaublich schwierig. Aber in Gaza dauern die Bombenangriffe immer noch an. Abgesehen von einigen Tagen Ende November gab es keine Ruhepause. Zu Beginn der Krise hatten die Menschen gehofft, dass der Konflikt innerhalb weniger Wochen aufhören würde. Doch der Krieg hält immer noch an. Frauen, Männer und Kinder sterben. Es gibt keinen sicheren Ort für sie. Wir hören von vielen Müttern, dass ihre Kinder nicht mehr essen oder sprechen und bei jedem lauten Geräusch weinen, weil sie traumatisiert sind. Etwa 10.000 Kinder haben ihre Väter verloren. Einige haben ihre gesamte Familie sterben sehen.

Abgesehen von den Bombenangriffen stellen die schrecklichen Lebensbedingungen eine enorme zusätzliche Belastung dar. Etwa sieben Prozent der Bevölkerung leidet an Durchfall, fast zehn Prozent an Atemwegserkrankungen. Das ist angesichts des Staubs, der von den zerstörten Gebäuden ausgeht, nicht verwunderlich ist. Stellen Sie sich vor, Sie müssen sich in einer solchen Situation mit Hunderten Menschen eine Toilette teilen, Sie haben keine Medikamente und kein warmes Bett. Sie haben seit Monaten nicht richtig geschlafen oder gegessen, Sie wachen jede Nacht wegen der Bomben auf, Sie frieren, Sie machen sich Sorgen um Ihre Verwandten und Sie wissen nicht, wie Sie Ihre Kinder ernähren sollen. Sie fragen sich, ob sie jemals wieder zur Schule gehen oder ein Leben haben werden, ohne ständig zu befürchten, dass jeder Augenblick ihr letzter sein könnte. Der psychische Stress, dem die Menschen ausgesetzt sind, ist enorm. Und es ist kein Ende in Sicht.

Was ist im Moment das Wichtigste? Wie hilft CARE?

Mehr als 2,2 Millionen Menschen in Gaza brauchen dringend Hilfe. Ich denke, es ist wirklich wichtig, dass wir nicht abstumpfen und uns bewusst sind, dass hinter diesen Zahlen Menschen stehen. Wir müssen sicherstellen, dass alle diese Menschen die Hilfe erhalten, die sie so dringend brauchen.

CARE und andere Organisationen fordern weiterhin einen sofortigen Waffenstillstand und die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Konfliktparteien. Das Wichtigste im Moment ist, dass wir alle Menschen in Not erreichen und die humanitäre Katastrophe, die sich abzeichnet, abfangen können.

Unser CARE-Team in Gaza und unsere Partnerorganisationen haben Trinkwasser, Hygienesets sowie Decken und Matratzen an fast 100.000 Menschen verteilt. Erst letzte Woche haben unsere Partner Material für Abdichtungen ausgegeben, das es den Menschen ermöglicht, zerbrochene Fensterscheiben in leicht beschädigten Gebäuden mit Plastikplanen zu ersetzen und undichte Dächer zu bedecken. Aber es wird noch viel mehr Unterstützung gebraucht. Bisher ist erst ein Fünftel der 50.000 benötigten Zelte in Gaza angekommen. Wir wissen auch, dass es noch Zehntausende von nicht explodierten Sprengkörpern gibt, eine unglaublich hohe Zahl. Diese nicht explodierten Raketen und Geschosse in den Trümmern müssen so schnell wie möglich beseitigt werden. Sonst werden noch mehr Menschen sterben oder schwer verletzt werden.

Langfristig müssen natürlich auch die Häuser wieder aufgebaut werden. Mehr als die Hälfte der Gebäude in Gaza ist zerstört. Die meisten Menschen haben kein Zuhause, in das sie zurückkehren können.

So hilft CARE: Seit der Eskalation des Konflikts konnten CARE-Teams und Partner in Gaza Hygienepakete, Unterkünfte, Decken und Matratzen sowie Trinkwasser an über 91.000 Menschen verteilen. CARE erreichte außerdem über 60.000 Menschen mit medizinischer Unterstützung. 

  • Haltung von CARE CARE Österreich verurteilt zutiefst den brutalen Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober. Unser Mitgefühl gilt den Opfern und Geiseln dieses Angriffs, ihren Familien sowie allen zivilen Opfern. CARE verurteilt jegliche Gewalt gegen Zivilbevölkerungen. Wir sind zutiefst beunruhigt über die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten. Die Gräueltaten, die an unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten verübt wurden, sind unvorstellbar. Die Notlage der Bevölkerung in der Region verschlimmert sich zusehends. Der Bedarf an Hilfe ist enorm. CARE verurteilt jegliche Gewalt und fordert alle Konfliktparteien dringend dazu auf, ihren Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht nachzukommen und die Zivilbevölkerung zu schützen. Die Arbeit von CARE orientiert sich ausschließlich am humanitären Mandat und den Menschenrechten.

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