"Wo soll ich hin?"

Dnipro liegt so nah an der Frontlinie, dass Raketen nur zwei Minuten und zweiundvierzig Sekunden vom Start bis zum Einschlag brauchen. Yurii benötigt allein zwanzig Sekunden, um ruhig zu stehen zu können. Nach vierzig Sekunden greift er nach seinem Rollator. Nach siebzig Sekunden macht er den ersten Schritt. Er hantiert an der Tür und bleibt im Rahmen hängen. Es dauert zwei Minuten, bis er überhaupt den Gang erreicht. An der Treppe zum Schutzraum bleibt er stehen. Dreiundzwanzig Stufen hinunter – unmöglich für ihn. Zu diesem Zeitpunkt ist die Rakete bereits irgendwo eingeschlagen.

Also bleibt Yurii bei Angriffen in seinem Bett und hofft, dass sein vorübergehendes Zuhause nicht getroffen wird. Er lebt in einer temporären Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Dafür, den Schutzraum an ihre Bedürfnisse anzupassen, fehlt das Geld. Die Notunterkunft heißt „Ocean of Kindness“. Yurii (56) nimmt an psychosozialen Unterstützungssitzungen teil, die von CARE-Partner Avalist mit Unterstützung von International Partnerships Austria organisiert werden. Erfahren Sie hier mehr über die Nothilfe in der Ukraine.

In der heutigen Sitzung in Dnipro geht es um Gefühle. Es sind zwölf Teilnehmende da. Sie sollen zunächst sagen, welches Essen sie lieben oder eben nicht. Yurii sagt: „Ich mag keine Zwiebeln.“ Andere sagen, dass sie Kuchen und Süßigkeiten am liebsten mögen. Im Raum wird es leiser, alle lachen. Dann werden sie gebeten, Emotionen auf einer Körperumriss-Zeichnung einzutragen. Yurii starrt lange auf das Papier. Dann zeichnet er nur einen kleinen roten Punkt, direkt über dem Herzen. „Liebe“, sagt er nur. Mehr erklärt er nicht. Die Gruppe bastelt gemeinsam Kerzen.

Ukraine war 2025

Yurii (r.) musste über Wochen alleine und ohne Hilfe in seinem zerstörten Haus in der Nähe der Front ausharren. Foto: Sarah Easter/CARE

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In der Sitzung zur psychosozialen Unterstützung geht es diesmal um das Thema Gefühle. Foto: Sarah Easter/CARE

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Auf dem Sitz von Yuriis Rollator steht mit weißer Farbe: „Nicht anfassen, sonst stirbst du.“ Er lacht, wenn die Leute es bemerken. „Das ist ein Scherz“, sagt er. Foto: Sarah Easter/CARE

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Yurii versucht, fröhlich zu bleiben und andere Geflüchtete aufzumuntern. Foto: Sarah Easter/CARE

Auf dem Sitz von Yuriis Rollator steht mit weißer Farbe: „Nicht anfassen, sonst stirbst du.“ Er lacht, wenn die Leute es bemerken. „Das ist ein Scherz“, sagt er. Er möchte die Menschen zum Lachen bringen. Yurii ist groß, aber leicht gebeugt. Seine Bewegungen sind durch einen Schlaganfall, den er vor Jahrzehnten erlitten hat, verlangsamt. Er spricht langsam, manchmal stockend, aber sein Gesicht ist immer fröhlich.

Yuriis Dorf nahe der Grenze zu Donetsk ist zerstört, das Dach seines Hauses eingestürzt. „Es war schrecklich im Dorf. So viel Zerstörung. Niemand konnte etwas tun, um die Zerstörung, den Tod und den Schmerz zu stoppen.“ Er erinnert sich an die Drohnen. Sein Gesicht verzieht sich, seine Hand umklammert die Stuhlkante.

Monatelang gab es in seinem Gebäude weder Strom noch Wasser. Er öffnete die Fenster, um frische Luft hereinzulassen, hörte aber nur Beschuss. Manchmal schrie er durch das offene Fenster seinen Nachbarn zu, um die Stille zu durchbrechen. Und um gehört zu werden. Er wollte sie wissen lassen, dass er noch da war.

Am meisten vermisste er den Kontakt zu anderen Menschen. Einmal kam eine Sozialarbeiterin vorbei, brachte ihm Essen und Wasser und kochte für ihn. Aber dann, eines Tages, kam sie nicht mehr zurück. „Ich war allein, ohne jegliche Unterstützung.“ Schließlich erreichten ihn Freiwillige, und er wurde in Sicherheit gebracht.

Yurii versucht, weiter positiv zu denken. Doch er macht sich Sorgen, was aus ihm werden soll. „Dies ist nur ein vorübergehender Aufenthaltsort. Ich befürchte, dass ich bald gehen muss, aber ich weiß nicht, wohin. Ich brauche einen Ort zum Leben. Die Jahre vergehen, und ich möchte nicht allein sein.“

Wie Yurii haben viele Vertriebene Angst, dass sie auf Dauer wieder sich selbst überlassen werden. Doch sie wissen nicht, wie sie das schaffen sollen. Sie brauchen weiter und auch langfristig unsere Unterstützung.

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