Von allen zurückgelassen

Niemand weiß, wer die Katze mitbrachte. Sie streift im Transitzentrum umher, das früher ein Festsaal für Theateraufführungen und Tanz war. Wo früher das Publikum saß, stehen jetzt Klappbetten. Die flauschige dunkle Katze springt auf die Matratze in der einstigen Reihe 17, Platz 8. Dort sitzt Larisa (66).  Sie ist schmal und zieht einen schweren Mantel fest um ihre schmalen Schultern. Larisa schläft angezogen mit allem, was sie noch besitzt: Hut, Mantel und Schuhe. Wind dringt in die Halle und lässt alle im Raum frösteln.

„In Pokrovsk war es noch kälter. Es war nichts mehr da. Keine Heizung. Kein Strom“, erinnert sich Larisa. Sie war allein und hatte Angst. Sie fürchtete die Explosionen und auch, dass sie fallen und nicht mehr aufstehen könnte. „Alle haben mich verlassen. Meine Kinder, meine Nachbar:innen – sie sind alle gegangen. Mich haben alle vergessen“, sagt sie. Der Bus einer lokalen Hilfsorganisation, mit der CARE zusammenarbeitet, brachte sie aus dem umkämpften Gebiet am Ende doch in Sicherheit.

Durch den Verlust ihres Zuhauses erlitt Larisa ein Trauma. Es fällt ihr schwer, zu beschreiben, wie es ihr geht. Larisas Stimme stockt, sie sucht nach Worten. Sie verlässt ihr Klappbett kaum. Larisa möchte auch lieber nicht trinken, um nicht zur Toilette gehen zu müssen. Sie fühlt sich schwach. Die Mitarbeiterin einer Partnerorganisation von CARE kümmert sich um die Geflüchteten. Sie bietet Decken, Suppe oder freundliche Worte an. „Ich versuche, auf alle zuzugehen, damit sich niemand allein vorkommt“, sagt sie. Die Katze tröstet auch. Sie kommt oft, um zu kuscheln. Sie legt sich auf Larisas Füße und hält sie warm. Die Katze ist, wie die Menschen hier, ein Flüchtling – ein Überbleibsel eines zurückgelassenen Lebens. 

„Ich werde nicht mehr gebraucht. Ich habe keine Ahnung, ob mein Haus noch steht oder in Schutt und Staub verschwunden ist“, sagt Larisa. „Die Wände hatten Risse. Mein Badezimmer wurde getroffen. Ich habe Zeitungen benutzt, um die Löcher abzudecken.“ Wo sie jetzt hingehen soll, weiß Larisa nicht. Sie hat niemanden, der auf sie wartet. Larisa streichelt abwesend über das Fell der Samtpfote neben ihr. „Es gibt jetzt nur noch mich und diese Katze“, flüstert sie. „Alle anderen sind weg.“

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Die Katze ist, wie die Menschen hier, ein Flüchtling - ein Überbleibsel eines zurückgelassenen Lebens. Foto: Sarah Easter/CARE

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Busfahrer Vitalii bringt Menschen aus Pokrovsk in der Nähe der Front in Sicherheit. Foto: Sarah Easter/CARE

Vor dem früheren Theater stehen Busse im eisigen Wind. Das Wort „EVAKUIERUNG“ prangt in fetten roten Buchstaben auf staubigen Fenstern, zusammen mit einer Telefonnummer. Jeden Tag bringen die Busse der CARE-Partnerorganisation neue Evakuierte hierher zum Transitzentrum. In einem Bus sitzt Vitalii (55) hinter dem Steuer. „Ich bin mein ganzes Leben lang Busfahrer gewesen“, sagt er achselzuckend. „Das ist nur ein weiterer Job. Ich bekomme einen Anruf, mir wird gesagt, wie viele ich abholen soll, und ich fahre los.“ Doch seine Worte spiegeln nicht das Risiko seiner Aufgabe wider.

Jede Fahrt nach Pokrovsk ist ein hohes Risiko und eine Mutprobe, denn die Frontlinie rückt immer näher. Das Geräusch von Granaten ist allgegenwärtig. Vitalii trägt eine kugelsichere Weste. „Das Schwierigste ist die Stille auf dem Rückweg“, gibt er zu. „Die meisten von ihnen sprechen nicht. Sie sitzen einfach mit gesenktem Kopf da und gehen dem Unbekannten entgegen.“

Die Geretteten sind überwiegend zwischen 40 und 60 Jahre alt. Es sind Menschen, die noch daran glauben, dass sie ein neues Leben beginnen können. Ältere Menschen und jene mit eingeschränkter Mobilität bleiben oft zurück – wie Larisa harren sie lange alleine aus. Nach der Ankunft mit dem Bus fahren die meisten Evakuierten mit dem Zug weiter in den Westen oder werden von Angehörigen abgeholt. Die anderen bleiben wie Larisa in der alten Festhalle und warten, bis Sozialarbeiter:innen eine langfristigere Bleibe für sie organisieren können. Vielleicht findet sich diesmal auch ein Platz für die kuschelige Katze auf Larisas Bett.

CARE unterstützt die Menschen in der Ukraine in Zusammenarbeit mit der Austrian Development Agency (ADA) und in diesem Projekt mit „Nachbar in Not“.

 

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