Warum „alles Andere ist wichtiger als Afrika“ nicht stimmt

Von Margit Maximilian, Korrespondentin des Österreichischen Rundfunks (ORF) in Afrika

Seit bald 20 Jahren berichte ich für die ZiB aus und über Afrika und nicht viele kennen das so gut wie ich: alles ist wichtiger! Regierungswechsel, Covid, die gesamte Innenpolitik. Dann noch die EU, Amerika, der Nahe Osten, Afghanistan. Aber Afrika? Die Latte liegt hoch. Es muss viele Tote geben, damit wir nach Afrika schauen, viel Leid oder Millionen Flüchtlinge.

Aber wie sollte eine faire Berichterstattung aussehen?

Über einen Kontinent mit 54 Ländern, 48 davon in Subsahara? Mit 3.000 Sprachen, unzähligen Völkern und Kulturen und 1,3 Milliarden Menschen?

Ein herausragendes Negativ-Beispiel ist mir noch gut in Erinnerung. Die ZiB rief an und wollte wissen, ob ich jemanden in Wien nennen könnte, der live über Joseph Kony und seine „Lord‘s Resistance Army“ in Uganda sprechen könnte. Ich war verblüfft. Hatte es doch monatelang gedauert, bis meine Geschichte über „Die Kinder der Nacht“ das Licht der Sendungen erblickt hatte. Erraten: immer wieder war etwas Wichtigeres dazwischengekommen. Kinder wurden damals von ihren Eltern Nacht für Nacht aus den Dörfern in die Stadt geschickt, um nicht von Konys „Lord‘s Resistance Army“ entführt und als Kindersoldaten geschunden zu werden. Kaum wurde es dunkel, schleppte sich eine endlose Karawane müder, stiller Kinder in die Stadt. Manche so klein, dass sie getragen wurden oder tapfer an der Hand ihrer Brüder versuchten, Schritt zu halten. Sie schliefen auf dem Boden in Schul- oder Amtsgebäuden und brachen mit noch halb geschlossenen Augen vor Sonnenaufgang wieder auf. Ein Lokalaugenschein, der mir noch lange schlaflose Nächte bereitete. Warum aber jetzt, Jahre später, das plötzliche Interesse an Joseph Kony? An einem vergessenen Konflikt in Nord-Uganda?

Die Antwort fand sich im Netz: Eine obskure Gruppe in Amerika namens „Invisible Children“ hatte eine Kampagne gestartet, die die Gräuel publik machen und zur Verhaftung des skrupellosen Rebellenführers führen sollte. Ein Internetvideo wurde in wenigen Tagen 70 Millionen Mal aufgerufen. Noch nie zuvor habe es eine derart schnell verbreitete Social-Video-Kampagne gegeben, heißt es auf Wikipedia. Später wurden nicht nur Unmengen von Fehlern aufgedeckt, die undifferenzierte Darstellung und plumpe Schwarz-Weiß-Malerei wurde kritisiert und eine vorbildlich recherchierte arte-Reportage zeigte sogar eine verdeckte Propagandastrategie auf. Es ging darum, eine Präsenz amerikanischer Militärs in Uganda zu rechtfertigen. Die Jagd auf Joseph Kony war nur ein Vorwand gewesen.

Wie also können wir den „vergessenen Krisen“ eine adäquate Bühne bieten?

Dazu, denke ich, ist es vor allem wichtig, sie einzuordnen. Krisen entstehen nicht über Nacht, auch die Vorgänge in Nord-Uganda hatten eine lange Vorgeschichte. Hunger fällt nicht vom Himmel. Schlechte Regierungsführung, Klimawandel, geopolitische und wirtschaftliche Interessen spielen stets mit. Nur wenn die Hintergründe beleuchtet werden, haben solche Berichte für uns auch einen Erkenntniswert. Isolierte Projekte, die zweifellos vielen Menschen helfen, mögen zwar Mitleid erzeugen und zu Spenden anregen – an den Konflikten selbst ändern sie meist nichts.

Aufgeben also? Es sein lassen? Selbstverständlich nicht! Verantwortungsvoll und gut recherchierte Beiträge ohne Klischees über uns kaum bekannte Regionen der Welt sind allemal interessant. Eine aufgeklärte, junge Generation weiß das auch zunehmend zu schätzen, das zeigt zumindest meine persönliche Erfahrung. Egal ob im Ostkongo, in Burundi, in Uganda, Äthiopien oder in Österreich. Lives matter. Jedes Leben zählt.

Lesen Sie hier den CARE-Report „Suffering in Silence“ – 10 Krisen, die 2021 keine Schlagzeilen machten